16.06.2023 bis 16.06.2023
Mit einem Gesprächskreis zum Thema „Sehnsucht Freiheit – der 17. Juni 1953 im mitteleuropäischen Kontext“ erinnerte der Sächsische Landtag am Vorabend des 70. Jahrestages an den Volksaufstand in der DDR. Auf Einladung von Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler diskutierten Dr. Nancy Aris (Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur), Petr Brod (Journalist und Zeitzeuge „Prager Frühling“), Prof. Dr. Michael Gehler (Leiter des Instituts für Geschichte an der Stiftung Universität Hildesheim) sowie Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz (Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław).
Am Vorabend des 70. Jahrestages des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 fand ein Gesprächskreis im Dresdner Ständehaus zum Thema "Sehnsucht Freiheit – der 17. Juni 1953 im mitteleuropäischen Kontext" statt. Die Veranstaltung ging insbesondere den mitteleuropäischen Dimensionen dieses Freiheitskampfes nach und setzte den 17. Juni ins Verhältnis zu anderen Volkserhebungen im einstigen kommunistischen Machtbereich in Mitteleuropa.
In einem glänzenden Vortrag ordnete der Hildesheimer Historiker Prof. Dr. Michael Gehler, der intensiv die Freiheitsrevolutionen in Mitteleuropa erforscht hat, die Geschehnisse vom 17. Juni 1953 in das europäische Konzert ein. Nachdem er zunächst die Ursachen und Abläufe des Volksaufstandes in der DDR nachgezeichnet hatte, analysierte er die internationale Wahrnehmung der Ereignisse. Die Vorboten hätten sich in der Tschechoslowakei (ČSR) ereignet, wo es bereits am 1. Juni 1953 in größeren Städten – besonders in Pilsen – Proteste gegeben habe. Hier geschah das erste Aufbegehren im Ostblock. Zuvor schon habe der in Ungarn unter Imre Nagy eingeleitete neue Kurs das Interesse der Bevölkerung in der ČSR geweckt.
Während der 17. Juni in Jugoslawien regimeseitig als Ausdruck sowjetischer Systemschwäche und jugoslawischer Emanzipationsbestrebungen interpretiert worden sei, hätten in Polen weite Teile der Bevölkerung durchaus mit "Sympathie und Bewunderung« auf den Volksaufstand geblickt. So berichtete es laut Gehler am 19. Juni 1953 der österreichische Vertreter in Warschau. Ungeachtet der Propaganda des kommunistischen Regimes sei die polnische Bevölkerung durch westliche Rundfunksender gut informiert gewesen. In der Folge sei es auch in Polen zu Arbeitsniederlegungen gekommen. Ein tatsächlicher Aufstand formte sich jedoch erst 1956 in Posen aus.
Der Westen mit seinem Status-quo-Denken, so Gehler, habe indes in einer "unheiligen Allianz" mit der Sowjetunion gestanden. Die Ereignisse des 17. Juni, insbesondere die sowjetische Repression, hätten Konrad Adenauers Politik der Westbindung Vorschub geleistet. Der 17. Juni habe den Bundeskanzler gegenüber den Westmächten wie auch innenpolitisch gestärkt. Es bestand ein interner alliierter Konsens. Den Siegern des Zweiten Weltkrieges sei es um die Konsolidierung ihrer Einflussbereiche gegangen. Alleinige Verlierer seien die Deutschen hinter dem "Eisernen Vorhang" gewesen.
"Die Tragik des Aufstandes bestand darin, dass sein Scheitern allen Gegnern eines Kompromisses zwischen Ost und West sowie all jenen nutzte, die am deutschlandpolitischen Status quo festhalten wollten. Der 17. Juni verfestigte die deutsche und damit auch die europäische Teilung und war damit auch eine Niederlage für Mitteleuropa." Ungewollt, so Gehler, hätten die Aufbegehrenden damit zur Verstetigung der deutschen Teilung beigetragen.
Zu Beginn der Veranstaltung hatte Landtagspräsident Dr. Rößler in seiner Begrüßungsansprache den 17. Juni als "den Tag der Freiheit" gewürdigt. Die Opfer des 17. Juni seien für dieselbe Freiheit gestorben und ins Gefängnis gegangen, die die Menschen 1989 auf friedlichem Wege erringen konnten und die heute in Mitteleuropa oft als eine Selbstverständlichkeit gelte. Freiheit, so Rößler, müsse aber immer wieder aufs Neue erkämpft und verteidigt werden.
Auch indem man das historische Erbe des 17. Juni pflege, als einen Gedenktag, einen "Denktag über Geschichte", würde man dem gerecht. Der 17. Juni stehe stellvertretend für die totalitäre Niederschlagung einer Freiheitsbewegung. Er stehe für die brutale Gewalt von Kommunismus und Sozialismus sowie die lange unerfüllt gebliebene Forderung nach Freiheit und deutscher Einheit. Er stehe aber auch für den Mut der Aufständischen und den Respekt davor, betonte der Landtagspräsident.
Die Podiumsdiskussion bewertete die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln. Dem Journalisten Petr Brod zum Beispiel, der 1969 mit seinen Eltern infolge der Niederschlagung des "Prager Frühlings" aus der Tschechoslowakei nach Westdeutschland emigrierte, begegnete der 17. Juni vor allem nach seiner Flucht. In der Tschechoslowakei der 1960er-Jahre habe er indes kaum eine Rolle gespielt. Man erinnerte sich daran, aber die Ereignisse in Ungarn 1956, besonders der Einmarsch der Sowjets, hätten alles andere überlagert.
Der polnische Historiker Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław, berichtete davon, wie er in den 1980er-Jahren erstmals in der Samisdat-Literatur vom Aufstand des 17. Juni erfahren habe. Später habe er gemeinsam mit Kollegen anhand von Akten belegen können, dass es mitteleuropäische Erhebungen waren, die durchaus miteinander in Verbindung standen. Das sei lange von der deutschen Geschichtsschreibung ignoriert worden. Heute sei das Datum in der polnischen Öffentlichkeit nicht präsent. Wiewohl habe es 1953, nur acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, tatsächlich Solidaritätsbekundungen aus der polnischen Bevölkerung gegeben. Der Wunsch nach Freiheit sei von vielen Polen geteilt worden.
In gewisser Weise, so Ruchniewicz, habe damals eine erste polnisch-deutsche Annäherung stattgefunden. Die DDR sei 1953 ein Sonderfall gewesen, bemerkte Prof. Dr. Michael Gehler kritisch. Die Deutschen waren damals der ehemalige Kriegsgegner und es habe gegolten, sie kleinzuhalten ("keep them down"). Das Machiavellistische, das Zynische des 17. Juni sei gewesen, dass die Westmächte dies hätten durch die Sowjets besorgen lassen. Der 17. Juni spiegele deshalb auch die Doppelbödigkeit alliierter Deutschlandpolitik wider.
Dr. Nancy Aris, die Sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, legte ihr besonderes Augenmerk auf die aktuelle Vermittlung des 17. Juni. Umfragedaten anlässlich des 70. Jahrestages zeigten, dass in Ostdeutschland jeder Zweite etwas über den 17. Juni wisse, in Westdeutschland seien es noch 40 Prozent, bei den unter 30-Jährigen sei es jedoch nur noch jeder Siebte. Hier gebe es großen Bedarf an vermittelnden Strukturen in Schulen und Hochschulen.
Der Frage des Moderators Dr. Thomas Arnold, Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, welche Rolle der 17. Juni 70 Jahre nach den revolutionären Ereignissen in Europa zu spielen vermöge, ließ Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz eine klare Antwort folgen: Der 17. Juni 1953 stehe für eine gemeinsame mitteleuropäische Erfahrung des Widerstandes gegen den Totalitarismus. Bis zum heutigen Tage, das zeigten die Ereignisse in der Ukraine, würden Freiheit und Demokratie immer wieder gefährdet. Das seien die mitteleuropäischen Lehren aus dem 17. Juni und aus vergleichbaren Ereignissen im Ostblock.
Autor: Dr. Thomas Schubert