Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Datum 27.01.2020 bis 27.01.2020

Blick aus den Reihen der Abgeordneten auf die szenische Lesung aus dem Werk

Traditionell erinnerten der Sächsische Landtag und die Sächsische Staatsregierung in einer gemeinsamen Veranstaltung am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. An die Ansprachen von Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler und Ministerpräsident Michael Kretschmer schloss sich eine szenische Lesung aus dem Werk "Christus von Auschwitz" der polnischen Autorin und Holocaust-Überlebenden Zofia Posmysz an.

Detailansicht öffnen: Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler hält seine Ansprache zur Gedenkstunde im Plenarsaal
Ansprache des Landtagspräsidenten Dr. Rößler zur Gedenkstunde

Auf den Tag genau 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee erklang im Plenarsaal des Sächsischen Landtags das Musikstück "Tote wollen nicht verweilen" des österreichischen Komponisten Victor Ullmann. Es handelt sich um eines seiner letzten Lieder. Im Oktober 1944 wurde er aus dem Lager Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und dort kurz nach seiner Ankunft ermordet. Die musikalische Umrahmung passte ebenso zum Erinnerungsjubiläum wie zum Thema der Gedenkstunde, die Einzelerzählungen des Holocausts in den Mittelpunkt stellte.

 

Die Opfer nehmen uns in die Pflicht

 

"Wir gedenken heute der Opfer des Nationalsozialismus und des Menschheitsverbrechens Holocaust", so Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler zu Beginn. "Wir gedenken derer, die in der Zeit des deutschen Wütens ihr Leben ließen. Wir trauern mit all jenen, die Angehörige und Freunde verloren. Ihre Schicksale sind uns eine Mahnung und sie nehmen uns in die Pflicht."

 

Besonders bedeutsam seien die vielen von den Opfern erzählten Geschichten aus dieser Zeit. Sie ließen uns das Unbegreifbare erahnen, so der Landtagspräsident. "Sie eröffnen uns die Individuen hinter den Millionen Namen der Shoa-Opfer. Ihre verbrieften Schicksale sind der niemals zu leugnende Beweis. Sie zeigen das Geschehene wie es war. Sie zeigen, was nie hätte geschehen dürfen. Wir dürfen daher nicht müde werden, selbst kleinste Episoden darzustellen", bekräftigte Rößler.

 

Leider seien Antisemitismus und antijüdische Ressentiments in unserer Gesellschaft noch immer verbreitet. "Jeder Einzelne von uns hat die Pflicht, Antisemitismus zu bekämpfen. Und noch viel mehr: Wenn Rechtsstaat und Demokratie in Verruf gebracht werden, wenn die Mitmenschlichkeit versagt, wenn der Hass auf Andersdenkende grassiert, dann müssen wir dagegen vorgehen." Nichts rechtfertige Todesdrohungen, Gewaltaufrufe oder politisch motivierte Angriffe, machte Rößler klar. Wer so etwas tue, habe nichts aus unserer Geschichte gelernt.

 

Bewusster Umgang mit eigener Geschichte

 

Ministerpräsident Michael Kretschmer unterstrich die kontinuierliche Aufgabe des Erinnerns. Der Holocaust sei ein "beispielloses Verbrechen" und der "dunkelste Teil der deutschen Geschichte". Millionen von Menschen seien von den Nationalsozialisten grausam ermordet worden. Umso wichtiger sei es, wie die Deutschen zu ihrer Geschichte stehen, wie sie diese behandeln. Der Weg des verantwortungsvollen Umgangs mit der eigenen Geschichte habe die Bundesrepublik stark gemacht und zur Versöhnung mit Israel und dem jüdischen Volk beigetragen. "Zu unserer Art in Deutschland zu leben, gehört eine klare Haltung zu unserer Vergangenheit, eine eindeutige Ablehnung jeder Form von Antisemitismus und eine Unterstützung für das Existenzrecht von Israel", betonte Kretschmer. Neue Formen des Gedenkens, wie etwa die Verlegung von "Stolpersteinen", seien begrüßenswert.  

 

"Christus von Auschwitz"

 

Im Zentrum der Gedenkstunde stand diesmal eine Lesung, dargeboten vom Theater Seniora. Die 2008 veröffentlichte Erzählung "Christus von Auschwitz" stammt aus der Feder der Holocaust-Überlebenden Zofia Posmysz. Die polnische Autorin schildert darin eine sehr persönliche Begebenheit aus ihrem Lageralltag. Als 20-jährige begegnet sie 1943 dem polnischen Offizier Tadeusz Paolone in der Küchenbaracke des Frauenlagers in Auschwitz. Die kurzen Treffen mit diesem außergewöhnlichen Menschen bestimmen ihr Leben bis heute. Als Erinnerung ist ihr nur ein im Lager gefertigtes Medaillon geblieben, das er ihr schenkte und das ihr einst Kraft spendete.

 

"Auf der obersten Pritsche im Block zehn, im Licht der untergehenden Sonne, deren Strahlen durch die Fenster unter dem Dach fielen, betrachtete ich das Geschenk, das Gesicht des leidenden Jesus. Ohne Dornenkrone auf dem Haupt. Mit einem Dornenkranz verzierte der Künstler stattdessen den Ortsnamen auf der Rückseite: ,Oświęcim‘. Das weiter unten eingravierte Jahr ,1943‘ erinnerte mich daran, dass ich bald mein zwanzigstes Lebensjahr vollenden würde."

 

Tadeusz Paolone schied so schnell aus ihrem Leben, wie er in es hineingetreten war. Am 11. Oktober 1943 wurde er zusammen mit anderen polnischen Offizieren, die im Lager Teil einer geheimen Militärorganisation waren, erschossen. Zofia Posmysz erfuhr damals von seinem Tod, konnte aber erst nach ihrer Befreiung mehr über diesen, über ihren Helden erfahren, dem sie das Stück "Christus von Auschwitz" gewidmet hat.

 

Kurzporträt von Zofia Posmysz
 

Zofia Posmysz wurde am 23. August 1923 in Krakau geboren. 1942 kam sie wohl wegen einer Denunziation zunächst in ein Krakauer Gefängnis, dann in das Frauenlager von Auschwitz-Birkenau. Sie durchlitt diese Lagerhölle, überstand Krankheit und Gewalt. Wohl aufgrund ihrer Deutschkenntnisse wurde sie "Schreiberin" in der Lagerküche. Hier begegnete sie Tadeusz Paolone, Tarnname "Lisowski", wovon ihre Erzählung "Christus von Auschwitz" handelt. Im Januar 1945 überstand sie den "Todesmarsch" ins KZ Ravensbrück. Ihre Befreiung durch die Alliierten erlebte Zofia Posmysz am 2. Mai 1945 im Außenlager Neustadt-Glewe. Sie kehrte bald in ihre Heimatstadt Krakau zurück, wo ihre Mutter und ihr jüngerer Bruder den Krieg überlebt hatten. Ihr Vater war von Deutschen erschossen worden.

 

In Warschau holte sie ihr Abitur nach, studierte Polonistik und arbeitete für die Literaturredaktion des Polnischen Rundfunks, wo sie bis zu ihrer Pensionierung wirkte. Ihren literarischen Durchbruch erlebte sie mit dem 1962 erschienenen, seither in ein Dutzend Sprachen übersetzten Roman "Die Passagierin". Mieczysław Weinberg komponierte auf dessen Grundlage 1968 eine Oper, die aber erst 2010 im Rahmen der Bregenzer Festspiele uraufgeführten wurde. Weitere wichtige Werke von ihr sind die Erzählung "Sängerin" und der vielgelobte Roman "Ein Urlaub an der Adria". Die 2008 veröffentlichte Erzählung "Christus von Auschwitz" knüpft an eine Episode aus dem Roman "Die Passagierin" an. Zofia Posmysz ist heute 97 Jahre alt und lebt in Warschau. Die vielfach ausgezeichnete Autorin ist Trägerin des deutschen Bundesverdienstkreuzes am Bande sowie des Ordens des Weißen Adlers, dem höchsten Ehrenzeichen der Republik Polen.

 

Hintergrund Holocaust-Gedenktag

Der 27. Januar ist in der Bundesrepublik Deutschland nationaler Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Er wurde vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog 1996 proklamiert. Seit 2006 gedenken der Sächsische Landtag und die Staatsregierung jedes Jahr an diesem Tag der Opfer mit einer gemeinsamen Veranstaltung.