Zu Beginn seines Vortrags nahm Bundestagspräsident Norbert Lammert noch einmal Bezug auf die „rhetorischen Eskalationen“, die Dresden und Sachsen seit einiger Zeit erlebten, und er dankte Frank Richter, dem Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, nachdrücklich, dass er dem mit seinem Engagement für einen demokratischen Dialog etwas entgegengesetzt habe.
Seine Ausführungen zum Thema des Abends leitete der Bundestagspräsident mit Überlegungen zum Kern des Politischen ein. In einer Demokratie könne niemand für seine Überzeugungen, Meinungen und Interessen einen Absolutheitsanspruch erheben. Der „Verzicht auf Wahrheitsansprüche“ sei die logische Voraussetzung für jedes demokratische Handeln und die Basis für einen respektvollen politischen Umgang miteinander. Nicht Freund-Feind-Denken und die Zerstörung des politischen Gegners, sondern politische Konkurrenz und Verständigung auf mehrheitsfähige Positionen kennzeichneten den Kern des Politischen in einer Demokratie.
Schnell kam Norbert Lammert auf den gegenseitigen Umgang im politischen Streit zu sprechen. Es grassiere ein „Unterbietungswettbewerb“, der sich besonders in der politischen Auseinandersetzung in den Sozialen Medien widerspiegele. Das früher Unsägliche sei hier „längst sagbar geworden“. Mehr und mehr bleibe es zudem nicht bei „rhetorischen Entgleisungen“. „Faktische Übergriffe“ auf Mandatsträger oder Abgeordnetenbüros seien an der Tagesordnung; eine Entwicklung, die man ernst nehmen müsse. Versage etwa die Selbstregulierung der Sozialen Medien, dann müssten Gesetzgeber wie Justiz handeln. Denn das Internet sei der „mit Abstand wichtigste Katalysator“ der „Verrohungstendenzen in unserer Gesellschaft“.
Deutschland habe während der Weimarer Republik die „Selbstdemontageeffekte einer parlamentarischen Demokratie“ erlebt, die Freund-Feind-Verhältnisse im Politischen auslösen können. Heute bestehe in unserem Land eine „erstaunliche Balance“ zwischen dem „natürlichen Konkurrenzreflex“ einerseits und der „Kompromissfähigkeit“ von Parteien und Politikern andererseits, die oft zu gemeinsamen Lösungen führe. Diese glückliche Errungenschaft des politischen Systems erzeuge jedoch zugleich ein Gefühl des „Nichtvertretenseins“ in Teilen der Gesellschaft – und damit ein ernstes Dilemma, wie der Bundestagspräsident zu bedenken gab. „Wenn Parlamente nicht mehr als Orte des Streits und der Empörung wahrgenommen werden, dann werden die Straßen und Plätze Orte des Streits und der Empörung.“
Norbert Lammert erinnerte daher an den Satz von Theodor Heuss: „Demokratie ist nie bequem.“ Und er fügte hinzu: „Wir sollten nicht als gegeben hinnehmen, dass zu viele Demokraten zu oft zu bequem sind. Nur durch die Bereitschaft, diese Staatsform so ernst zu nehmen, wie sie es verdient, können die Vorzüge von Freiheit und Selbstbestimmung und Partizipation auf Dauer erhalten werden.“