Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus - Ansprache des Landtagspräsidenten Dr. Matthias Rößler

10/2017 Datum 27.01.2017

Ansprache des Landtagspräsidenten Dr. Matthias Rößler: "Die historische Verantwortung, mit dem Erinnern nicht aufzuhören"

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
verehrte Frau Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich freue mich sehr, Sie zur gemeinsamen Gedenkveranstaltung des Sächsischen Landtags und der Staatsregierung für die Opfer des Nationalsozialismus hier im Plenarsaal begrüßen zu können.

Besonders begrüßen möchte ich die Vertreter der Opferverbände, die heute gemeinsam mit uns allen erinnern wollen. Ich heiße den Auschwitz-Überlebenden Justin Sonder willkommen. Verehrter Herr Sonder, der Chemnitzer Stadtrat hat vorgestern beschlossen, Ihnen die Ehrenbürgerschaft der Stadt Chemnitz zu verleihen. Darüber freue ich mich und spreche Ihnen meine Glückwünsche aus.

Sehr herzlich begrüße ich unseren ehemaligen Landtagspräsidenten Erich Iltgen und seine Frau. Ich begrüße meine Kolleginnen und Kollegen des Sächsischen Landtags sowie ehemalige Mitglieder unseres Parlaments.

Mein Gruß gilt zudem den Vertretern der Staatsregierung, des Verfassungsgerichtshofes, des Konsularischen Korps, den Vertretern der Kirchen und jüdischen Gemeinden, der Kommunen, des sorbischen Volkes, der Bundeswehr, des öffentlichen Lebens und der Medien.

Eine große Freude ist mir die künstlerische Umrahmung durch die Landesbühnen Sachsen. Ich danke Ihnen dafür und heiße Sie herzlich willkommen.

Ebenso herzlich begrüße ich die vielen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sowie die anwesenden Schülerinnen und Schüler.

Ehrengast unserer heutigen Veranstaltung ist Jacek Zieliniewicz. Seien Sie herzlich Willkommen hier im Sächsischen Landtag!

„O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“

Anne Frank schrieb diese Sätze am 5. April 1944 in ihr Tagebuch. Seit fast zwei Jahren lebte sie da schon mit ihrer Familie in einem Amsterdamer Hinterhaus, versteckt auf engstem Raum vor den Gestapo-Häschern. Sie wollte Journalistin und Schriftstellerin werden, wollte schreiben, wollte „weiterkommen“ im Leben. Sie sollte kein Jahr mehr leben dürfen. Anfang 1945 starb sie im Alter von fünfzehneinhalb Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen – kurz nach ihrer Schwester Margot.

Hunderttausende Kinder und Jugendliche, der Nachwelt unbekannt, verloren im Holocaust ihr Leben. Anne Frank gibt ihnen ein Gesicht und eine Stimme. Sie gibt ihnen Gedanken, gibt ihnen Empfindungen, die viele von ihnen wohl so oder ähnlich gedacht und empfunden haben.

Das Tagebuch der Anne Frank ist daher ein Bestseller. Es ist mehrfach verfilmt worden, zuletzt von Hans Steinbichler. Es erhielt Adaptionen für Theater und Oper. Der russische Komponist Grigori Frid hat mit seiner mono-dramatischen Oper „Anne Frank“ ein Werk geschaffen, das die Landesbühnen Sachsen als Schultheaterstück inszenieren. Miriam Sabba verleiht Anne Franks Worten ihre Stimme und ihren Emotionen Ausdruck. Wir sehen später Ausschnitte aus der Oper.

Den Holocaust künstlerisch aufarbeiten ist eine zentrale Form des Erinnerns. Am 24. Juni 2017 hat das Stück „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg in der Semperoper Premiere. Der 1968 entstandenen Oper über Verdrängung, Schuldgefühle und den Umgang mit der eigenen Vergangenheit liegt die Novelle „Die Passagierin“ der polnischen Schriftstellerin Zofia Posmysz zugrunde. Sie hat einst die „Hölle Europas“, sie hat Auschwitz überlebt und ihr Erleben seither in Büchern verarbeitet.    

Den Holocaust künstlerisch und schriftstellerisch aufzuarbeiten hilft den Nachgeborenen, zu Gedenken und es hilft ihnen, zu Begreifen und Lehren zu ziehen.

Meine Damen und Herren, es war Bundespräsident Roman Herzog, der 1996 den 27. Januar als bundesweiten Gedenktag ins Leben rief, als einen, wie er selbst sagte, „wirklichen Tag des Gedenkens, ja des Nachdenkens“. Es war Roman Herzog, der ein Jahr früher, 1995, seiner „innersten Überzeugung folgend“, als erster deutscher Bundespräsident Auschwitz-Birkenau besuchte – an der Seite der jüdischen Delegationen, in stiller Teilhabe an ihrem Totengebet.

Wie unermesslich wichtig war sein Handeln! Roman Herzog erinnerte die Deutschen an ihre historische Verantwortung, mit dem Erinnern nicht aufzuhören. Denn, so seine Worte, „ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft“.

Am 27. Januar gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Wir erinnern an Millionen Menschen, die aus politischen, ethnischen, religiösen, weltanschaulichen und anderen Gründen ihr Leben verloren. Wir erinnern an den von Deutschen und ihren Helfershelfern begangenen Völkermord an den europäischen Juden.

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das am 27. Januar 1945 von Soldaten der Roten Armee befreit wurde, war nur ein Ort des Schreckens. Mit ihren über 1000 Lagern hatten die Nationalsozialisten ganz Europa in eine Hölle verwandelt. Eine Hölle voller Orte, an denen Menschen erniedrigt, geschunden und getötet wurden, an denen der „Zivilisationsbruch“ seinen Lauf nahm.

Viele dieser Orte des Schreckens sind mittlerweile verschwunden, andere beinahe unsichtbar. Etwa die wild bewachsene Stätte des ehemaligen deutschen Arbeits- und Konzentrationslagers Plaszów, in einem Vorort von Krakau gelegen. Der Hügel lässt den Betrachter kaum noch etwas von dem erahnen, was dort einst Tausenden das Leben nahm. Vielen dürfte das Lager Plaszów allein durch den Film „Schindlers Liste“ ein Begriff sein. Auch hier hat die künstlerische Aufarbeitung gewirkt.

Meine Damen und Herren, sorgen wir dafür, dass, wenn schon an den einstigen Orten des Terrors zunehmend die Spuren verwischen, die Opfer des Nationalsozialismus immer von uns gesehen werden. Auch deswegen gedenken wir ihrer an jedem 27. Januar. Wir gedenken der Menschen, die in der Zeit, als viele Deutsche sich „gegenseitig darin überboten, keine Menschen zu sein“[1], ihr Leben ließen. Wir trauern mit jenen, die damals Angehörige und Freunde verloren. Wir erinnern mit denen, die dem Grauen entkamen.

Wir erinnern an alle diese Menschen und suchen ihre Erinnerung an das Erlebte und an das Verlorene. Sofern, ja sofern ihre Erinnerungen nicht für immer von uns gegangen sind. Mehr und mehr verlieren wir jene, die die Schrecken durchmachen mussten. Mit ihnen schwindet das Erlebniswissen über Diktatur und Gewaltherrschaft, über Menschheitsverbrechen wie den Holocaust. Ihre mahnenden Stimmen werden weniger. Roman Herzog sagte einst: „Wer Unfreiheit und Willkür kennt, der weiß Freiheit und Recht zu schätzen. Die Selbstverständlichkeit aber, mit der unser Volk Freiheit und Recht erleben darf, vermittelt mitunter zu wenig Gespür für die Gefahren von Willkür und Unfreiheit.“

Was würde wohl Anne Frank dem reichlichen Viertel der 18- bis 29-jährigen Sachsen sagen, die laut Sachsen-Monitor der Meinung sind, Juden haben „etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht recht zu uns“? Was würde sie den 29 Prozent sagen, die der Aussage zustimmen, die Verbrechen des Nationalsozialismus würden in der Geschichtsschreibung übertrieben?

Anne Frank war 15 Jahre alt, als sie in einem deutschen Konzentrationslager an Unterernährung und Krankheit starb. Sie, dieses „Bündelchen Widerspruch“, sie würde uns schon klar machen, dass alle Menschen „dieselbe Luft“ atmen, dass an „Freiheit, Wahrheit und Recht“ kein Weg vorbei gehen darf, dass niemand eine Antwort auf die Frage hat, weshalb im Menschen „der Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten“ existiert, weshalb „alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist“, immer wieder „abgeschnitten und vernichtet“ wird, und dass genau deshalb jeder immer wieder sich selbst und sein Gewissen prüfen und sich fragen muss, warum und wofür er lebt und ob er dabei „Gutes tut“.[2]

Meine Damen und Herren, unser heutiger Ehrengast ist Jacek Zieliniewicz. Er, der zwei deutsche Konzentrationslager überlebte, spricht seit Jahren als Zeitzeuge über seine leidvollen Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus. Unter anderem organisiert über die Zeitzeugenarbeit des Maximilian-Kolbe-Werks ist er sehr oft an deutschen und polnischen Schulen. Hier zeigt er authentisch auf, wie es war: in einer Zeit, von der wir heute kaum eine Vorstellung mehr haben, an Orten, die jenseits jeder menschlichen Vorstellungskraft liegen.

Geboren wurde Jacek Zieliniewicz 1926 in Janowiec Wielkopolski, einer kleinen Stadt nordöstlich von Posen. Sein Vater hatte im Ersten Weltkrieg für das deutsche Kaiserreich gekämpft, seine Mutter eine deutsche Schule besucht. Er selbst ging auf das deutsche Gymnasium in Posen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1939 in Polen wurde seine Familie von den Besatzern in das sogenannte Generalgouvernement zwangsumgesiedelt.

1943 kam er im Alter von 17 Jahren als politischer Häftling nach Auschwitz. Ein Jahr später wurde er nach Dautmergen transportiert, in das größte und schrecklichste der zum sogenannten „Unternehmen Wüste“ gehörenden Lager. KZ-Häftlinge arbeiteten hier für die deutsche Kriegswirtschaft. Sie errichteten Fabriken und förderten Ölschiefer zur Treibstoffgewinnung. Es war schwerste Arbeit unter entsetzlichen Bedingungen. Häftlinge aus allen Ländern Europas starben damals auf der Schwäbischen Alb.

Jacek Zieliniewicz überlebte das Lager, überstand den Todesmarsch und kam im April 1945 frei. Nach einer kurzen Phase der Erholung kehrte er nach Polen zurück. Er studierte hier Lebensmitteltechnologie, arbeitete als Ingenieur und gründete eine Familie.

Lange Zeit wollte er nichts mehr mit den Deutschen zu tun haben. Es war eine Einladung der „Initiative Gedenkstätte Eckerwald“, die ihn 1995 erstmals wieder nach Deutschland führte. Seitdem ist er regelmäßig in unserem Land, hält hier Vorträge und lebt die Versöhnung. Im Jahr 2015 erhielt er für seine Versöhnungsarbeit den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg.

Verehrter Herr Zieliniewicz, ich darf Sie nochmals ganz herzlich im Sächsischen Landtag willkommen heißen. Wir freuen uns sehr auf Ihre Ausführungen. Doch zuvor bitte ich den Ministerpräsidenten um das Wort.

Übertragungshinweis:
MDR 1 RADIO SACHSEN überträgt die Gedenkstunde live über DAB+: MDR SACHSEN EXTRA.

[1]     Zofia Posmysz: Die Passagierin, Berlin 1969, S. 139.
[2]     Die zitierten Passagen stammen aus Anne Frank Fonds (Hrsg.): Anne Frank. Gesamtausgabe, Frankfurt a.M. 2013, S. 222, 238, 253 f., 346.